Es beginnt ganz unten bei der moosigen Erde des Waldes, dort wo die tiefen Klänge wohnen. Bassflöte, Altflöte, Baritonsaxofon, darüber das Sternenlicht in höheren Frequenzen - ein bisschen unheimlich das Ganze, doch voller Erwartung auf den neuen Tag, auf das Licht und die Klarheit, die er bringen mag: „Before the Dawn“, der Album-Opener, gibt schon einiges preis von dem, was Until Broad Daylight, das neue Album der Hamburger Saxofonistin und Flötistin Bettina Russmann an Raffinesse zu bieten hat. Neben dem raffiniert gesetzten Gewebe der Flötentöne bringt hier der volltönende Bariton des Sängers Ken Norris einen ins elisabethanische Englisch transponierten Text der Bandleaderin zum Glühen und macht das nächtliche Flirren zwischen Desorientierung und Aufbruch greifbar. Die Sterne und das über die Bande gespielte Licht der fernen Sonne bieten Orientierung bis der Tag anbricht.
Ein Album zu produzieren, stand bereits länger auf der bucket-list von Bettina Russmann – doch wo beginnen, wenn so viel vorstellbar ist? Geboren 1968 in Lübeck war ihr Weg in die Musik nicht vorgezeichnet. Sie begeisterte sich schon als Kind für die Platten der Beatles, besonders Abbey Road und das Weiße Album. Später mäanderte ihr Musikgeschmack von David Bowie über Talking Heads und Frank Zappa hin zu verschiedenen Strömungen des Jazz. Wegweisend war sicher ein Live Konzert von Al Jarreau, das sie dazu bewegte im Radioprogramm des NDR weiter nach jazzigen Klängen auf die Suche zu gehen und wurde fündig bei der Musik von u.a. Miles Davis, Dexter Gordon, Ella Fitzgerald. Hierdurch inspiriert nahm sie mit 17 ein Tenorsaxofon in die Hand - und blieb dabei. Nach der Schulzeit ging sie nach Berlin, spielte in diversen Bands, die Mauer fiel. Drei Jahre Jazz-Studium an der Hochschule für Musik Hanns Eisler folgten, und dann noch mal vier Jahre am Konservatorium in Amsterdam/Hilversum. Im Anschluss daran wählte sie Hamburg als Domizil und arbeitet seitdem als freiberufliche Musikerin.
2010 gründete Bettina Russmann ihr Quartett, eine exquisite Working Band mit einigen der herausragenden Musikern aus der Szene, um ihre musikalischen Ideen zu verwirklichen. Sie hatte nur ihren eigenen Kompass, um die verschiedenen Klangwelten, die sie interessierten zu erforschen, schrieb Stücke, komponierte und arrangierte. Irgendwann gab sie ihrem schon immer lebhaften Interesse an Sprache und Text nach und begann, eigene Texte zu ihren Songs und Kompositionen zu schreiben - poetische Texte von einer geheimnisvollen, elegischen Stimmigkeit, in denen ein Wort ins andere greift.
Das Album „Until Broad Daylight“ fährt die Ernte dieser Arbeit ein. Acht der elf Kompositionen stammen aus der Feder von Bettina Russmann, zwei hat sie aus dem Repertoire von David Bowie entlehnt, ein weiteres stammt von Gavan Gravesen, einem Schlagzeug-Kollegen aus Berliner Zeiten. Im Kern der Musik steht das um den Sänger Ken Norris erweiterte Quartett mit dem Pianisten Enno Dugnus, dem Schlagzeuger Heinz Lichius und dem Kontrabassisten Giorgi Kiknadze. Die Farbenpracht dieser Besetzung wird in einigen Songs um Beiträge der Gitarristen Johannes Wennrich und Daniel Hirth angereichert. In ihrer Version von Bowies „Life on Mars“, einer Bravournummer für die Stimme von Ken Norris, bürgt zudem das Kaiser Quartett für den spannungsgeladenen Samtklang von Streichern. Bei all dem selbstbewussten Eklektizismus, der als einzigen konzeptionellen Rahmen für ihr Album ihre musikalischen Vorlieben akzeptiert, bleibt das Erforschen und Produzieren von Musik die Triebfeder von Bettina Russmann.