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Wie klingt es, wenn jemand die Zeit, in der lebt, zu ergründen versucht? Wie hört es sich an, wenn jemand das Land, in dem er lebt, verstehen will? Karl Neukauf ist ein Chanson- und Liedermacher aus Berlin, der seit Jahren durch Deutschland tourt. Von Nord nach Süd, aber vor allem: von West nach Ost. „KARLEIDOSKOP“, sein fünftes Album, ist ein Ergebnis dieser langen Reise.
In seiner Musikerkarriere hat Karl Neukauf Platten für André Herzberg, Judith Hoersch oder Dirk Michaelis produziert. Er hat Theater- und Filmmusiken geschrieben und ist mit Künstler:innen wie Max Richard Lessmann, Danny Dziuk und Lana del Rey aufgetreten. Bis heute aber spielt er am liebsten auf kleinen Bühnen, in verrauchten Kneipen, in alten Kirchen und verwinkelten Scheunen. In Orten mit Namen wie Sandhatten oder Tröchtelborn. Dort, wo man mit seinem Publikum noch ins Gespräch kommen kann. Dort, wo man mitbekommt, was die Leute bewegt. Kaum ein Konzert, nach dem Neukauf nicht in einen Disput an der Bar verwickelt wird: Müssen wirklich so viele Flüchtlinge kommen? Soll Deutschland Waffen in die Ukraine liefern? Kann man noch glauben, was in der Zeitung steht? Und darfs noch ein Rotwein sein?
Neukauf ist ein guter Zuhörer, er lässt sich auf alle ein, auch auf die Schwierigen, die Querulanten, die Spinner. Nie aber erliegt er der Versuchung, auf komplizierte Fragen allzu leichte Antworten zu finden.
„KARLEIDOSKOP“ beginnt mit einem uralten ukrainischen Volkslied – ein Gruß an die westukrainische Stadt Lviv - für deren Nationaltheater er im Frühjahr 2024 Musik komponierte. Er bereiste die Stadt und nahm zwischen Theaterprobe und Bombenalarm ein Duett mit der ukrainischen Schauspielerin und Regisseurin Veronica Litkevich auf. Der Sound? Tarantino schippert über den Dnipro. Im Hintergrund urbane Klänge wie aus Robert Franks Street-Photography. Ein paar Tracks weiter findet sich der Soundtrack zum politischen Jahr 2024, der „Fake News Blues“, ein lakonischer Song, in dem Neukauf ein paar alternative Fakten die Bluesskala hoch- und runterjagt.
Das Herzstück der Platte: ein Reggae. Der Song namens „Geist von Helsinki“ beschwört das Jahr 1975, in dem sich Staatschefs aus Ost und West zur berühmt gewordenen Konferenz von Helsinki trafen, um zu beraten, wie sich der Kalte Krieg befrieden ließe. „Sicherheit heißt nicht, Zäune zu errichten, sondern auf Zäune zu verzichten“, singt Karl Neukauf. „Keiner zwingt den anderen in die Knie – das war das Wunder von Helsinki.“
„KARLEIDOSKOP“ erzählt von russischen Dissidenten und Berliner Pennern, von falschen Propheten und herbeifantasierten Gefährten. Von Tieren, die als Seismographen fungieren. Und von Kneipen, in denen zwei Stühle mindestens drei Meinungen haben. Die Tischtücher in Karl Neukaufs Liedern sind mit Wein bekleckert. Der Glitzerschmuck, den seine Protagonisten tragen, kommt aus dem Kaugummiautomaten.
Karl Neukauf singt Neue Berliner Chansons. Er hat ein großes Herz und eine tiefe Stimme. Er ist Nostalgiker, aber er schwurbelt nicht. Ein wehmütiger Verfechter der Sachlichkeit. Ein hellsichtiger Chronist in düsteren Zeiten. Zehn Songs versammelt er auf seinem neuen Album. Zehn Mosaiksteine, die kein eindeutiges Bild, aber Sinn ergeben. Lieder, die nachdenklich, aber keine schlechte Laune machen. Man kann sie drehen und wenden und jedes Mal etwas Neues darin erkennen. So wie ein Kaleidoskop.